Zum 25. Jahrestag der Wiederherstellung der staatlichen Einheit
Deutschlands
Wenn am 3. Oktober 2015 mit echter Begeisterung,
verordnetem Jubel, oder ernüchtert schweigsam die Wiederherstellung der staatlichen
Einheit Deutschlands gefeiert wird, dann ist dieser Tag auch Anlass, ehrlich
Bilanz zu ziehen, Defizite zu benennen und auf ungelöste Probleme zu verweisen.
Ein schwerer Geburtsfehler belastet die
wiederhergestellte Einheit bis heute. Sie ist nicht das Ergebnis einer vom
deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossenen Verfassung sondern Folge
des Anschlusses der DDR an die BRD.
Damit wurde eine historische Chance vertan. Das
vereinigte Deutschland wurde nicht als ein durch seine Geschichte auf eine
konsequente Friedenspolitik und Antifaschismus verpflichteter Staat konzipiert,
ostdeutsche Leistungen und Erfahrungen wurden negiert und notwendige
Korrekturen am bundesdeutschen System unterlassen.
Sozialabbau über Hartz-IV-Gesetze, über Jahrzehnte
stagnierende oder gar sinkende Reallöhne, die Absenkung des Rentenniveaus, die
wachsende Gefahr von Altersarmut und eine sprunghaft steigende
Verteilungsungerechtigkeit zwischen Arm und Reich prägen das Bild der
Bundesrepublik seit 1990.
Das verhängnisvolle Wirken der Treuhand hat in
Ostdeutschland industrielle Brachen hinterlassen, die Entvölkerung und
Überalterung des Ostens hält an. Die 100 größten ostdeutschen Unternehmen
erreichen zusammen nur die Hälfte der Bilanzsumme eines einzigen westdeutschen
Konterns – in diesem Falle Daimler. Im Osten fehlen industrielle Forschung und
Entwicklung oder Konzernzentralen.
Die vom Grundgesetz geforderte Angleichung der
Lebensverhältnisse zwischen Ost und West stagniert. Bei Löhnen und Renten,
Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsverhältnissen besteht die alte Grenze der
ehemals beiden deutschen Staaten fort. Noch immer werden bei gleichwertiger
Arbeit im Osten niedrigere Löhne gezahlt. Die nunmehr in der vierten
Legislaturperiode versprochene Rentenangleichung Ost an West wird weiter
verzögert.
Wegen ihres einstigen Engagements für die DDR wurden in
großer Zahl ehemalige Bürger der DDR aus ihren Funktionen im Staatsapparat, der
Justiz, dem Hochschulwesen und der Volksbildung entfernt und ausgegrenzt. Ihre
Lebensleistung wird auch nach 25 Jahren noch diskriminiert und verleumdet.
Exemplarisch dafür steht der Umgang mit den ehemaligen Angehörigen des
Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Ohne konkreten Tatvorwurf als Täter
stigmatisiert, werden ihnen politische und soziale Rechte verfassungswidrig
vorenthalten. Für sie gelten weiterhin Berufsverbote. Das passive Wahlrecht und
Persönlichkeitsrechte wie der Schutz persönlicher Daten sind de facto für sie
aufgehoben. Ihre Rentenansprüche wurden willkürlich begrenzt. Für Politik und
Medien gilt: gegen das MfS hat jeder recht.
Ganze Heerscharen von Historikern, Journalisten und
Mitarbeitern diverser Behörden und Gedenkstätten verdienen ihren Unterhalt
ausschließlich mit der Aufgabe, die DDR in den schwärzesten Farben zu malen,
immer neue Schattenseiten zu entdecken und zu skandalisieren.
Was als Rechtfertigung und Verteidigung des bestehenden
Systems gedacht ist, erweist sich zunehmend als ernsthaftes Hemmnis jeglichen
gesellschaftlichen Fortschritts.
Wer Visionen für die Gestaltung der Zukunft Deutschlands
entwickeln will, kommt an den Erfahrungen der DDR nicht vorbei. Anknüpfen ließe
sich dabei z.B. an
· den
garantierten Menschenrechten auf Arbeit und Wohnung;
· die
emanzipatorischen Leistungen zur Gleichberechtigung und Förderung der Frauen;
· die auf
sozialer Sicherheit basierende effektive Förderung von Jugend und Familie;
· die
Überwindung des Bildungsprivilegs durch besondere Förderung von Arbeiter- und
Bauernkindern;
· die
Schaffung eines einheitlichen, PISA-tauglichen Bildungssystems inkl. der
polytechnischen Bildung;
· die
Installierung eines Non-Profit-Sektors im Gesundheitswesen mit besonderen
Leistungen auf den Gebieten des vorbeugenden Gesundheitsschutzes und der
Arbeitsmedizin;
· die
Schaffung einer einheitlichen, von allen Berufstätigen getragenen Kranken- und
Rentenversicherung;
· die
von den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften geprägte moderne
Agrarstruktur und die darauf basierende Entwicklung des ländlichen Raumes;
· die
vorbeugende Verhinderung von Straftaten und konsequente Wiedereingliederung
Straffälliger in das gesellschaftliche Leben;
· der
Aufbau einer demokratischen Justiz mit für die Bürger verständlichen Gesetzen
und fortschrittlichen Regelungen im Zivil-, Arbeits- und Familienrecht, ohne
überlange Verfahren und einer Rechtsprechung, in der Recht bekommen und haben
identisch sind;
· die
Erfahrungen gesellschaftlicher Gerichte bei einer bürgernahen Rechtsprechung;
· die
Ausgestaltung der Mitbestimmung der Gewerkschaften in den Betrieben;
· die
konsequente Trennung von Staat und Kirche und Behandlung der Religion als Privatsache;
· die
zeitlich befristete Beschäftigung und Qualifizierung ausländischer
Arbeitskräfte in Kooperation und Solidarität mit den jeweiligen Heimatländern;
· die
Abwesenheit von Ressourcen verschlingender aufdringlicher, oft auch noch
schwachsinniger Werbung;
Die zu den reichsten Ländern der Welt gehörende
Bundesrepublik Deutschland könnte diese und weitere gesellschaftliche Probleme
zweifellos aufgreifen und lösen, sofern dabei auf antikommunistische
Scheuklappen verzichtet wird.
W.S.
26.09.2015