Herbert
Kierstein
28. März 2017
Empfänger
in alphabetischer Reihenfolge:
AfD
Bündnis 90 / Die Grünen
CDU
Die Linke
FDP
SPD
Betreff: Geschichtsfälschung verhindert die Einheit
Deutschlands
Werte
Damen und Herren,
die
Einheit Deutschlands wird sich erst vollenden, wenn die Geschichte beider
deutscher Staaten ehrlich und sachkritisch aufgearbeitet wurde. Aktionen der
einen und Reaktionen der anderen Seite dürfen dabei nicht ausgeblendet werden.
Als
ehemaliger Untersuchungsführer des MfS, der im Verlaufe von 30 Dienstjahren in
Hunderte von Ermittlungsverfahren gegen Agenten westlicher Geheimdienste oder
von diesen gesteuerter Organisationen involviert war, frage ich anlässlich der
am 21.03.2017 erfolgten Übergabe des 13. Tätigkeitsberichtes der BStU an den deutschen Bundestag öffentlich: „Warum
Tausende von Ermittlungsverfahren gegen westliche Spione bis heute in den
Tätigkeitsberichten der BStU keine Rolle spielen“?
Falls Sie die Antwort tatsächlich nicht kennen, will ich versuchen, Ihnen ein
annäherndes Bild darüber zu vermitteln, welche Tatsachen Ihnen und der Öffentlichkeit
vorenthalten werden.
Bei
allen in der DDR ansässigen Spionen existierten seit der Grenzschließung 1961
in Berlin nachrichtendienstliche Systeme zur unpersönlichen Aufrechterhaltung der Verbindung wie z.B.
Tote Briefkästen, Deckadressen, Codematerialien zur Ver
- und Entschlüsselung von Nachrichten und Informationen, Geheimschreibmittel,
einseitige Rundspruchdienste der Geheimdienste und in speziellen Fällen
Funkgeräte im Besitz der Agenten. In unterschiedlichem Umfang gelangten
Instruktionen und Aufträge der Geheimdienste über geeignete Wege zu den
Spionen.
Bei
solchen Systemen ist das Risiko einer Entdeckung durch die Spionageabwehr für
die Spione wesentlich höher.
Es
waren insbesondere Codematerialien, Geheimschreibmittel und schriftliche
Instruktionen, deren Aufbewahrungsorte das MfS bereits vor der Festnahme durch
operative Maßnahmen aufklären konnte, sodass deren Sicherstellung als
Beweismittel unmittelbar im Zusammenhang mit der Festnahme möglich war. Hinzu
kam, dass es Spezialisten des MfS gelang, geheimschriftliche Texte der Spione
auf dem Postweg zu kopieren und sichtbar zu machen. Die Rundspruchdienste der
Geheimdienste wurden von einer dafür zuständigen Diensteinheit permanent
aufgezeichnet, weshalb nach Sicherstellung der Codematerialien Chancen gegeben
waren, übermittelte Aufträge und Instruktionen zu entschlüsseln.
Verständlich,
dass sich dadurch die Auswahlmöglichkeiten der Beschuldigten zur Gestaltung
ihres Aussageverhaltens erheblich einschränkten. Die Erkenntnis, dass die
Arbeitsmethoden ihrer Auftraggeber sie in ausweglose Situationen gebracht
hatte, war ein weiterer Faktor für die Förderung ihrer Gesprächsbereitschaft
gegenüber dem Untersuchungsorgan des MfS.
Dies
und noch viel mehr lässt sich bei sachlicher Aufarbeitung der umfangreichen
Archivmaterialien des MfS feststellen und belegen. Es handelt sich, wie bereits
angeführt, um tausende von Ermittlungsverfahren.
Wer
von Ihnen Aussagen über weitreichende Details und Zusammenhänge bis hin zur
operativ verwertbaren Charakterisierung von Geheimdienstmitarbeitern, welche
das MfS durch operative Methoden niemals hätte aufklären können, lesen würde,
käme aus eigenem Denken zu der Erkenntnis, dass Unterstellungen über psychische
Folter und dergleichen abwegig sind.
In
gleichem Maße wäre für Sie der Umfang und Inhalt an persönlichen
Niederschriften erstaunlich, den Beschuldigte, überwiegend in ihrem Haftraum,
angefertigt haben. Die darin enthaltenen Informationen gehen weit über
strafrechtliche Aspekte hinaus und bereicherten das Wissen operativer
Diensteinheiten des MfS. Sie waren gleichzeitig Beleg für eine aktive
Mitwirkung der Beschuldigten im Ermittlungsverfahren, auf die sie sich auch vor
Gericht berufen konnten.
Die
als schriftliche Beweismittel existierenden Aufträge und Instruktionen der
westlichen Geheimdienste gestatten im Zusammenhang mit den protokollierten
Aussagen und persönlichen Niederschriften eine thematische Gliederung der
Angriffe gegen die DDR und ihre gesellschaftliche Ordnung.
Sie
umfassten Schädlingstätigkeit und Sabotage gegen die Volkswirtschaft der DDR
mit bezifferbaren Folgeschäden, Piraterie auf offener
See zur Störung und Unterbindung der Handelsbeziehungen der DDR, An- und Abwerbung von Spezialisten und
Wissenschaftlern mit dem Ziel, ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten für westliche
Konzerne zu erschließen, die Installierung von Funkmeldeköpfen für den
Kriegsfall auf dem Territorium der DDR, intensive Sammlung von Informationen
über die gesellschaftliche Situation innerhalb der DDR, womit ausnahmslos jeder
Spion beauftragt war, um Grundlagen für aktuelle Propagandakonzepte der Medien,
staatstragender Parteien und politischen Organisationen zu gewährleisten sowie
eine systematische Aufklärung der Standorte, Mannschaftsstärke und Ausrüstung
militärischer Einheiten auf dem Territorium der DDR und angrenzender
Bruderstaaten.
Logisch,
dass sich aus diesen permanent feindlichen Aktivitäten Einflüsse auf die
Entwicklung der Strafgesetzgebung, der Aufgabenstellung für die
Sicherheitsorgane und das gesellschaftliche Leben in der DDR insgesamt ergaben
und von den Initiatoren der Angriffe auch gewollt waren. Die Leidtragenden
waren schon damals die Schwestern und Brüder aus dem Osten.
Angemerkt
sei hier, dass die Ausblendung der Angriffe der Geheimdienste gegen die DDR nur
ein Bereich sind. Ein anderer, zu dem ich nicht
kompetent bin, war das direkte Wirken westlicher Konzerne und
Wirtschaftsunternehmen, wozu ebenfalls umfangreiches Aktenmaterial in den
Archiven des MfS existierte. Nicht unerwähnt bleiben darf auch die konsequente
Haltung der DDR zur Aufarbeitung von Nazi- und Kriegsverbrechen. Die durch das
Untersuchungsorgan des MfS dabei erzielten Ergebnisse geben Hinweise auf das
Wirken von belasteten Nazis in Machtstrukturen der Alt-BRD und finden in den
Tätigkeitsberichten der BStU keinen Platz.
Es
ist höchste Zeit, diesen Gegebenheiten bei der Geschichtsaufarbeitung Rechnung
zu tragen, das Handeln beider deutscher Staaten und die daraus entstandenen
Wechselwirkungen nicht länger auszublenden.
Dies
zu leisten sind Roland Jahn und seine Behörde weder gewillt, noch in der Lage.
Nur wenn die Archive des MfS in Hände von objektiven Wissenschaftlern kommen
und für eine sachliche
Geschichtsaufarbeitung uneingeschränkt zur Verfügung stehen kann dies
gelingen. Eingeschlossen auch solche Tatsachen, dass im Auftrag
verantwortlicher Amtsträger der Bundesregierung ganze Aktenbestände den
Archiven des MfS entnommen und den USA
übereignet wurden.
Das
Wahljahr 2017 sollte Anlass für Überlegungen sein, wie sich Ihre Partei dazu
positionieren will. Ich hoffe mit diesem offenen Brief einen Teil Ihrer Wähler
zu veranlassen, Ihr Wahlprogramm auch in Bezug auf dieses Thema zu bewerten.
Mit
freundlichen Grüßen
gez.
Herbert Kierstein