21.1.2016                                           Tageszeitung Junge Welt

 

     Ein Sammelband mit Erinnerungen von MfS-Angehörigen

Ernst Braumann

 

Seit den Rufen »Stasi in die Produktion« sind mehr als 25 Jahre vergangen. Die Aufregung der ersten Jahre nach 1990 hat sich gelegt, Politik, Wissenschaft und Justiz haben vieles »aufgearbeitet«, das vermeintlich oder tatsächlich mit dem DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in Zusammenhang stand, und eine Art Kanon geschaffen, der nun das Meinungsbild über die Sicherheitsarchitektur der DDR bestimmt - Irrtümer eingeschlossen. Einher damit ging eine relativ simple, wenngleich eingängige, Einteilung in Gute und Böse, in Opfer und Täter.

Parallel bemühten sich frühere Angehörige des MfS von Beginn an, diesem Mainstream ihre Positionen entgegenzusetzen. Zeitzeugen sind - auch mit ihrer subjektiven Sicht - für die Forschung unschätzbare Quellen. Dies trifft umso mehr auf jene Bereiche eines Staates zu, die sich - auch in westlichen Demokratien - der öffentlichen Betrachtung weitgehend entziehen. Wer, wenn nicht die Beschäftigen selbst, vermag zu berichten, wie innere Prozesse, kollegiales Mit- und Gegeneinander, Vorbilder und Führungsverhalten funktionierten, wie sich Anspruch und Wirklichkeit, Selbst- und Fremdbild beeinflussten?

Nach »Die Sicherheit« (2002), »Fragen an das MfS« (2010) und »Unbequeme Zeitzeugen« (2014) haben Wolfgang Schwanitz und Reinhard Grimmer mit »Wir geben keine Ruhe« wieder eine beachtliche Zahl und Vielfalt von Zeitzeugenberichten zusammengeführt. Dem früheren Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit und Leiter des kurzlebigen »Amtes für Nationale Sicherheit« 1989/1990 ist es zusammen mit dem langjährigen Offizier des MfS-Grundsatzbereichs gelungen, mehr als 30 Autoren der Jahrgänge 1923 bis 1957 zur Mitarbeit zu bewegen. Die meisten waren, teilweise über Jahrzehnte, für das MfS tätig. Sie berichten aus so unterschiedlichen Aufgabenbereichen wie der Spionage- und Funkabwehr, dem Personen- wie dem Wirtschaftsschutz, der Auslandsaufklärung, der Untersuchungsarbeit und der Ermittlung von Naziverbrechern. Darüber hinaus schildern sie ihre Motivation, sich für die DDR, ihren politischen Anspruch und die Arbeit für ihr Sicherheitsorgan bewusst zu engagieren.

Einige Autoren sind bereits verstorben wie Bernhard Riebe. Dennoch nahmen die Herausgeber auch seinen Beitrag über die Mititärabwehr mit auf. Karl Rehbaum, Führungsoffizier bedeutsamer Quellen des MfS Im Westen, zeichnet den bemerkenswerten Lebenslauf des Inoffiziellen Mitarbeiters (IM) »Winter« alias Siegfried Wenzel nach unter dem Titel »Von Vietnam zur NATO-Zentrale in Brüssel«. Er lässt realsozialistische Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen durchblicken, die ideell in der DDR, physisch aber eher im Ausland unterwegs waren. Gleiches beschreibt anschaulich auch der in Australien lebende Reinhard Kluge: Über 30 Jahre war er für die Deutsche Seereederei Rostock " in aller Welt und auf vielen Meeren unterwegs,

Waren in Vorgängerbänden und gerade in »Die Sicherheit« die Texte oft in einer bürokratischen Sprache gehalten, fällt in diesem Buch der lockere, persönliche Stil der meisten Beiträge sehr angenehm auf. So liest sich Rudolf Herz' Schilderung der von ihm miterlebten Operation der »Hauptverwaltung Aufklärung« (HV A) in Chile wie ein Krimi. Ebenso spannend und zugleich nachdenklich stimmend sind die Aufsätze von Dieter Skiba und Reiner Stenzel. In einer Organisationseinheit, die in der Bundesrepublik ihresgleichen vermissen ließ, waren sie »Naziverbrechern auf der Spur« bzw. verhörten den SS-Mann Josef Blösche. Neue Perspektiven erschließen sich, wenn Achim Kopf über Vernehmungen aus Sicht des Vernehmers berichtet und Marita Schmidt bekennt, sie war »Passkontrolleurin aus Leidenschaft«, Natürlich dürfen Darstellungen über westliche Dienste nicht fehlen. So finden Leser interessante Details, wenn sich Kurt Plache an Ermittlungen zu einem Militärspion erinnert oder Bernd Trögel über Zugänge in den Verfassungsschutz berichtet. Dass er den als »Dienstleister der H V A« beschreibt, sagt schon viel.

Technische Aspekte der Arbeit des MfS werden selten beschrieben. Vielleicht lässt sich dieses Manko beheben, wenn sich mehr Zeitzeugen des sogenannten Spezialfunkdienstes zu Wort melden. Hier wenden sich einige Autoren bereits diesem Gegenstand zu.

Das Buch ist auch lesenswert, weil es neben den Sachdarstellungen persönliche Ansichten der Verfasser vermittelt, darunter ihre Reflexion der sogenannten Wende. So werden politische Veränderungen der Jahre 1989/90 als »vollzogene Konterrevolution«, eine »25 Jahre andauernde Menschenjagd auf die Inoffiziellen Mitarbeiter« und der Anschluss der DDR in begrifflicher Nähe zu einer »Okkupation« (durch die alte Bundesrepublik) gesehen. An solchen Aussagen wird sich mancher stören - für die Nachwelt sind auch sie authentische Quellen von Zeitzeugen aus dem Jahr 2015. Es werden wohl nicht die letzten sein, kündigen (drohen?) die Verfasser am Ende des Buches doch an: »Wir geben keine Ruhe!«

Wolfgang Schwanitz und Reinhard Grimmer (Hrsg.): Wir geben keine Ruhe. Unbequeme Zeitzeugen II. Berlin 2015, Verlag am Park, 424 Seiten, 19,99 Euro