„junge Welt“ vom 05.10.2005

 

Inland

Gehirn waschen, bitte!

Birthler-Behörde macht sich jetzt sogar an Kinder heran. Schulbuchmaterialien strotzen vor Verdrehungen über die DDR

Gotthold Schramm

Marianne Birthler, ihre Behörde sowie deren Wurmfortsatz »Gedenkstätte Haftanstalt Hohenschönhausen« erleben unruhige Zeiten. Immer häufiger wird gefragt, welchen Nutzen diese Einrichtung hat, die 2200 Mitarbeiter beschäftigt und jährlich über 100 Millionen Euro verfügt. Als Fragesteller trat kürzlich auch der Willy-Brandt-Kreis mit Persönlichkeiten wie Egon Bahr, Friedrich Schorlemmer oder Günter Grass auf. Letzterer erklärte in »tiefer Sorge«, diese Behörde sei für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte ungeeignet, da ihr Zweck von Anfang an die Delegitirnierung der DDR gewesen sei. Das in der BRD und im Ausland vorherrschende Bild über die DDR als »Unrechtsstaat, in dem alle Bürger entweder bei der Stasi gearbeitet haben oder aber von ihr beobachtet wurden«, sei im wesentlichen auf das Wirken dieser Behörde zurückzuführen. Die Erklärung zitiert auch Birthlers Vorgänger Joachim Gauck mit der Aussage, 98 Prozent der DDR-Bürger hätten nie für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS, auch: Stasi) gearbeitet.

Speerspitze gegen Linke

In der Bundestagswahl sah Birthler, die »Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen« (BStU), offenbar die Chance, ihre in Vergessenheit geratene Behörde wieder in den Vordergrund zu rücken und erneute Überprüfungen einzufordern. Mit wohlwollender Duldung der etablierten Parteien nimmt die BStU zunehmend die Rolle einer Speerspitze gegen alles Linke ein - was allerdings manchen Linkspartei-Funktionären zu begreifen schwer fällt.

Die BStU setzt sich seit langem über gesicherte historische Erkenntnisse hinweg und maßt sich an, die DDR mit einem selbst geschneiderten Zerrbild des MfS zu erklären. Dieses Ministerium sei ein Instrument der Überwachung, der Folter und des Verbrechens gegen Menschenwürde und Freiheit gewesen und die DDR ein Unrechtsstaat. Richtig ist, daß es in der DDR auch Unrecht gegeben hat - genau so, wie es in der BRD Unrecht gibt. Man kann darüber streiten, ob es in dem einen Falle mehr oder im anderen Falle weniger war bzw. ist. Das Etikett »Unrechtsstaat« hingegen ist nichts anderes als politische Diffamierung -eine solche Bezeichnung wurde in der BRD nicht einmal für die Apartheid-Herrschaft in Südafrika gewählt.

Kürzlich übergab die BStU-Außenstelle Potsdam über 400 Exemplare »Lehrmaterialien« an die Schulen des Landes Brandenburg. In dem von Birthler und dem brandenburgischen Minister für Bildung, Jugend und Sport, Holger Rupprecht (SPD), unterschriebenen Vorwort wird zunächst bedauert, daß »in Erfahrungen und Deutungen von Eltern, Lehrerinnen und Lehrern ... in nostalgisierenden DDR-Kommerz-Objekten oder Fernsehshows ... beinahe trotzig ... eine von sozialer Sicherheit, Ruhe und Ordnung geprägte DDR dargestellt wird«. Offensichtlich mißfällt den beiden Vorwortautoren die Tatsache, daß die DDR zunehmend durch eine differenzierende Brille gesehen wird. Deshalb werden »unterstützende Materialien für die Behandlung der DDR-Geschichte« an Lehrer übergeben und »Hinweise für den Unterricht« erteilt.

Verwirren und verleumden

Am Anfang des Materials wird die Außenstelle Potsdam der BStU vorgestellt - und hier beginnen bereits das Verwirrspiel und die Verleumdungen des MfS. Wörtlich heißt es da: »Auf 1,8 Millionen Karteikarten wurden Bewohner des ehemaligen Bezirks Potsdam von der Staatssicherheit erfaßt«. Damit soll von vornherein der Eindruck einer »flächendeckenden Kontrolle und Erfassung« erweckt werden. Aber: Der ehemalige Bezirk Potsdam hatte - Kinder einbezogen - nur 1,1 Millionen Bewohner! Erst viel später wird im Material die eigentliche Personenkartei F 16 mit 247000 Erfassungen erwähnt. Darin sind alle Kategorien von Personen erfaßt, also auch BRD-Bürger und andere Ausländer, Geheimnisträger, Reisekader, Waffenträger, Flugzeugführer, Verwandte von Mitarbeitern des MfS, inoffizielle Mitarbeiter usw. Wie viele Personen tatsächlich wegen Kontroll- oder Bearbeitungsmaßnahmen erfaßt waren, wird verschwiegen, denn dann wäre die Lüge von »flächendeckender Überwachung und Bearbeitung« geplatzt.

Die BStU führt für den früheren Bezirk Potsdam 8319 festgestellte inoffizielle Mitarbeiter des MfS an. Auch mit dieser absoluten Zahl soll der Eindruck der totalen Überwachung erweckt werden. Aber: Es handel sich um nur 0,7 Prozent der Gesamtbevölkerung; und einbezogen sind dabei auch inoffizielle Mitarbeiter, die z. B. in der Spionageabwehr (284), der Terrorabwehr (29), dem Chiffrierwesen (78), dem Schutz der Volkswirtschaft (460) und in anderen Bereichen eingesetzt waren. Alles Spitzel? Die Verfasser des »Lehrmaterials« wollen offenbar den Eindruck erwecken, alle Informationen zu haben - doch sie schießen sich mit solchen »Tatsachen« selbst ins Knie. Bemerkungen wie »Die Kontrolle begann in den Kindergärten« oder »Häftlinge in der Strafvollzugsanstalt Naumburg wurden in Ketten gelegt« und viele andere lassen Seriosität und Sachlichkeit vermissen. Beides hat es nie gegeben, es gibt es auch keinerlei gerichtsfesten Beweis dafür.

Geld für Indoktrination

Als weiterer Beweis für die »Verfolgungspraxis« des MfS wird der breit dargestellte Operativvorgang »Anarchist« präsentiert. Hier geht es um einen 21jährigen Potsdamer, der seit Sommer 1983 mehrfach die US-Botschaft in Berlin aufgesucht und dort mit CIA-Mitarbeitern Gespräche geführt hatte. Er wurde von verschiedenen Gerichten der DDR zu Haftstrafen verurteilt und 1987 aus der Staatsbürgerschaft entlassen.

Birthler und die Mitarbeiter ihrer Behörde versuchen krampfhaft, ihre Existenzberechtigung nachzuweisen. So werden z. B. in Potsdam Seminare angeboten zu so menschheitswichtigen Themen wie »Decknamenentschlüsselung in der Behörde der Bundesbeauftragten« oder »Erschließung als Grundlage für eine Aktennutzung«. Warum sollte das einen Lehrer interessieren?

Die Außenstelle Erfurt der BstU geht noch weiter. Dort schreiben Petra Saar und Marion Wagner sogar »Stasi-Stücke«, etwa mit dem Titel: »Szenische Umsetzung von Fällen aus MfS-Akten zum Lesen und Nachspielen für Schüler«.

Geschichte kann nur sachlich und objektiv aufgearbeitet werden. Davon sind Birthler und ihre BStU jedoch weit entfernt. Im Gegenteil: Diese Behörde versucht, Schülerinnen und Schüler schon im frühesten Alter mit Horrorgeschichten, Verdrehungen und Aufbauschungen zu indoktrinieren.

Die 100 Millionen Euro Jahresetat der BStU sollten umgehend den Bildungsetats zugeschlagen werden. Ermunterung zu eigener Meinung oder Indoktrination? Aus einem Lehrmaterial der Birthler-Behörde

* Auszug aus dem Lehrmaterial der Birthler-Behörde, mit dem in Brandenburg über 400 Schulen versorgt wurden. Es geht darin nicht darum, die Schülerinnen und Schüler zur Bildung einer eigenen Meinung zu ermutigen. Ziel ist es vielmehr, sie im Sinne eines vorformulierten politischen Ziels propagandistisch zu beeinflussen.

»Hinweise für Lehrer/innen

Thema: Gleiches Recht auf Bildung und freie Entfaltung der Persönlichkeit

Lernziel: Durch das ausgewählte Beispiel soll herausgearbeitet werden, daß die Deutsche Demokratische Republik eine Diktatur war, in der das demokratische Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verletzt wurde.

Erarbeitungsschritte:

1. Auszug aus der Verfassung der DDR, Artikel 25, Absatz l, hinterfragen: >Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das gleiche Recht auf Bildung. Die Bildungsstätten stehen jedermann offen. Das einheitliche sozialistische Bildungssystem gewährleistet jedem Bürger eine kontinuierliche sozialistische Erziehung, Bildung und Weiterbildung^

2. Auszug aus dem Jugendgesetz der DDR, § 22, Absatz 2, diskutieren: >Die Zulassung zum Studium erfolgt nach den erforderlichen fachlichen und gesellschaftlichen Leistungen in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der sozialistischen Gesellschaft und unter Berücksichtigung der sozialen Struktur der Bevölkerung. Die Leitungen der Freien Deutschen Jugend (FDJ) sind berechtigt, über die Zulassung zum Studium mit zu entscheiden. «

Anhand des in den Akten dokumentierten Beispiels herausarbeiten, daß die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit den Jugendlichen in der DDR nicht möglich war.

Ergebnis: Der Staatssicherheitsdienst nötigte Jugendliche gegen ihr eigenes Gewissen, Spitzeldienste zu leisten. Er konnte die Vergabe von Studienplätzen beeinflussen und so den zur Mitarbeit gepressten Jugendlichen Vorteile verschaffen