FAZ entdeckt „Mär vom Rentenstrafrecht“
In einem Artikel vom 22.09.2015 mit dem Titel „Die Mär vom Rentenstrafrecht“ wirft Christian Hillgruber dem Autor des Buches „Zweiheit statt Einheit. Versorgungsüberleitung Ost“, Werner Mäder, „tiefe Ressentiments, die in Verfolgungs- und Verschwörungstheorien einmünden“ vor. (Eine Rezension zu diesem Buch ist auf dieser website nachzulesen).
Nun können allerdings weit mehr als 100.000 DDR-Bürger
bei ihrer monatlichen Rentenzahlung nachprüfen, wie ihre durch Beitragszahlung
erworbenen Rentenansprüche willkürlich vermindert wurden – ein in der deutschen
Rentengeschichte einmaliger Vorgang, ausgenommen der Umgang der Nazis mit
Rentenansprüchen jüdischer Bürger und solcher in den besetzten Gebieten. Auch der
Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen hat die Praktiken des Rentenstrafrechts
im heutigen Deutschland ausdrücklich gerügt.
Nach Auffassung
des Artikel-Schreibers sollten ehemals „staatsnahe“ DDR-Bürger „ebenso wenig rechtlich
geschweige denn moralisch weitergehende Ansprüche geltend machen“. Die
Begründung folgt den hinlänglich bekannten Klischees wonach Rentenkürzungen angeblich erforderlich
waren um „ein rentenrechtliches Fortwirken des Systems der Selbstprivilegierung
zu verhindern – was bereits dem Willen des demokratischen Gesetzgebers der DDR
von 1990 entsprochen hatte und auch das BVerfG als verfassungskonform ansah“.
Diese auf den ersten Blick noch einleuchtende Begründung
entlarvt sich auf den zweiten Blick als bodenlose Heuchelei. Kompetente
Zeitzeugen haben längst bestätigt, dass die letzte Volkskammer der DDR das von
westdeutschen Bürokraten kreierte Modell der Rentenkürzung so nicht gewollt
hat. Unabhängig davon hat die letzte Volkskammer der DDR keineswegs nur kluge
und weise Entscheidungen getroffen. Insbesondere mit ihrer mehrheitlich begeisterten
Zustimmung zum Anschluss der DDR an die BRD hat sie die DDR und ihre Bürger wie
eine Kolonie der Willkür der neuen Herren aus dem Westen ausgeliefert.
Aber worin besteht eigentlich die „Selbstprivilegierung“?
Ein Minister der DDR hätte danach kein höheres Einkommen zu beziehen gehabt als
der Durchschnittsverdiener. Genau nach diesem Maßstab wird seine Rente gekürzt.
Obwohl seine Verantwortung mit einer Beförderung vom Hauptabteilungsleiter zum
Minister sicher gestiegen ist, als Hauptabteilungsleiter hätte er einen vollen
Rentenanspruch. Welcher Widersinn! In welchem Land der Welt verdienen Minister eigentlich
nicht mehr als der Durchschnitt der Bevölkerung?
Die Angehörigen des MfS wurden nach gleichen Prinzipien
besoldet, wie die Angehörigen der bewaffneten Organe der DDR insgesamt, ihr
Einkommen lag nur geringfügig über dem der anderen Sicherheitsorgane. Nach den
jetzigen Rentenregelungen werden sie aber pauschal benachteiligt. Ein General
des MfS erhält die gleiche Rente wie ein Unteroffizier, ein Abteilungsleiter
wird seiner Sekretärin gleichgestellt, ein Hochschulabsolvent einem
Kraftfahrer. Hochschulabsolventen des MfS
werden - wie anderen Bürgern auch - Studienzeiten für die Rente nicht
berechnet. Mit dem Studium – so die Begründung – würden sie ohnehin höhere
Rentenansprüche erwerben. Berechnet wird ihre Rente aber nach einem
Durchschnittseinkommen.
Die Tatsache, dass mit der Überführung der
Sonderversorgungssysteme der DDR in die allgemeine Rentenversicherung und die
damit einsetzende Wirkung der Beitragsbemessungsgrenze bereits erhebliche durch
Beitragszahlung erworbene Rentenansprüche ehemaliger Angehöriger der
bewaffneten Organe und der Zollverwaltung der DDR auf kaltem Wege enteignet wurden
und eine privilegierte Altersversorgung, wie sie Beamte der Bundesrepublik ohne
jegliche Beitragszahlung ganz selbstverständlich beziehen, damit ausgeschlossen
ist, scheint dem Autor des Artikels entgangen zu sein.
In einem Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion vom
17.05.1995 „zur Abschaffung des politischen Rentenstrafrechts in den neuen
Bundesländern“, der von Rudolf Dreßler, Rolf Schwanitz und Wolfgang Thierse
eingebracht wurde, ist wörtlich nachzulesen: “Streitpunkt ist die Frage, ob
und wie weit das sogenannte „Rentenstrafrecht“ abgeschafft wird. Mit
„Rentenstrafrecht“ ist die Tatsache gemeint, daß bei
der Rentenberechnung für bestimmte Personengruppen, die als „systemnah“
eingestuft werden, das Arbeitseinkommen nicht in voller Höhe, sondern nur
begrenzt angerechnet wird. Gemeinsamer Nenner all dieser konkurrierenden
Entwürfe ist, daß man sich nicht konsequent vom
Strafgedanken löst, sondern das politische Rentenstrafrecht unter dem
Deckmantel des sogenannten Privilegienabbaus
fortsetzen möchte.“
Wie wahr, wie wahr!
Dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) liegen übrigens
seit mehr als drei Jahren mehrere Verfassungsbeschwerden gegen das Rentenstrafrecht
vor. Eine Entscheidung dazu steht noch aus.
Geradezu abenteuerlich ist der im Artikel herbeigezogene
Vergleich mit der Behandlung der
Gestapo-Angehörigen in der BRD nach 1945. Diese wurden – sofern sie nicht in
Polizei und Geheimdiensten ihre Beamtenkarrieren fortsetzen konnten -
„angemessen“ in der allgemeinen Rentenversicherung nachversichert, keineswegs
nach Maßgabe von Durchschnittseinkommen. Sogar die hauptamtlichen Mitarbeiter
der NSDAP wurden „angemessen“ nachversichert, obwohl sie ebenfalls keine müde
Mark in die Rentenkassen eingezahlt hatten. Den unsäglichen Vergleich der
Gestapo mit dem militärischen Führungspersonal der DDR hätte sich die FAZ sparen können.
W.S.
26.09.2015