Wolfgang Hartmann
Zur
Diskussion über die Akten der Gauck-Behörde
Veröffentlicht
in: NEUES
DEUTSCHLAND v. 22.12.1993
Absonderlich erscheint Pfarrer
Hans-Jochen Vogel[1] die
Zusammensetzung der "Pro-Akten-Front": hie
Bohley/Heitmann/Insider-Komitee[2] und dort
Bundeskanzler Kohl und Friedrich Schorlemmer[3]. Freilich ist
die Sache so einfach nicht: Auf Gründe, Interessen, Absichten und Ängste kommt
es an. Sie zu verstehen, muß betrachtet
werden, wer an welchen Teilen des eindrucksvoll, aber wenig seriös als
kilometerlang[4] bezeichneten Aktenbestandes des MfS
interessiert oder desinteressiert ist.
Frau Bohley und Friedrich Schorlemmer haben
sicherlich in erster Linie die Personen-Dossiers im Auge.
Das Insider-Komitee hat die Erhaltung
aller (!) Akten im Sinn. Personendossiers sind längst nicht alles. Es gibt
Analysen, Lageberichte zur Volkswirtschaft, zu anderen Bereichen und zum Zustand
der DDR überhaupt, Untersuchungen über die Naziverbrechen und über deren Täter,
Ergebnisse der Auslandsaufklärung und Analysen internationaler Prozesse - und
viel Banales.
An welche Teile der Akten denkt
Historiker und Kanzler Dr. Kohl, wenn er von unangenehmen Gerüchen spricht? Ich
vermute, weniger an die Personendossiers über DDR-Bürger, als vielmehr an jene
Akten, die Auskunft über politische Interessen und Beziehungen geben, oder
über Nazivergangenheiten.
(Man
erinnere sich der bundesdeutschen Unlust, die Verantwortung über das
Document-Center in Westberlin zu übernehmen und dieses systematisch zu
erschließen,
oder an die lächerlich kleine Personalausstattung der Zentralstelle zur
Untersuchung von Naziverbrechen in Ludwigsburg.)[5]
"Focus"-Veröffentlichungen
lassen ahnen, welchen Schatz von zeithistorischen authentischen Dokumenten
z.B. die Funkaufklärung der DDR hinterließ. Die Historiker der internationalen
und der zwischendeutschen Geschichte freuten sich noch mehr, gäbe es noch die
Sach-Akten des Auslandsnachrichtendienstes der DDR. Aber sie wurden mit
Rücksicht auf deren Quellen und nicht auf die Historiker-Interessen
zerschnipselt. Das darf man als historisch und politisch interessierter Mensch
bedauern.
Wie angenehm oder unangenehm - je nach
Interessenlage, daß sich in den Akten des MfS - außer Personalien - auch
Authentisches aus den Hinterbühnen und Regiezimmern der Politik der DDR, der
BRD und anderer Staaten finden läßt. Wenn diese Akten nicht verschlossen oder
freudenfeuerverbrannt, sondern öffentlich (!) zugänglich würden. Weshalb
sollten es nur betroffenen Bürgern ermöglicht sein, in ihre eigenen
Personaldossiers
zu blicken, und nicht allen Bürgern in die Geheimdossiers der "großen"
Politik? Wie instruktiv wäre doch für die Bildung des öffentlichen
Verständnisses, würden aus den politischen Dossiers die Unterschiede zwischen
Sonntags-, Parteitags- sowie Wahlreden und den tatsächlichen Interessen,
Absichten, Plänen und Handlungen bekannt? Gar bei analogem Umgang mit den
Dossiers der westlichen Dienste. Der Blick auf die komplizierte Durchdringung
von Konfrontation und Kooperation würde frei.
Z.B.
würden alle Ziele und Dimensionen der beiderseitigen Politik des
"Wandels durch Annäherung" im Gedächtnis bleiben, einige vielleicht
erst bekannt werden. Das behinderte sehr die neuerlichen Legendenbildungen.
Das Gerangel darüber, ob denn die
Mitglieder des Bundestags-Untersuchungsausschusses zu KoKo die einschlägigen
BND-Akten einsehen dürfen oder nicht, wirft ein aufschlußreiches Licht auf die
Interessenlagen. Ausschuß-Vorsitzender Vogel (CDU) machte "Quellenschutzgründe" geltend,
weshalb wohl?
Die in der gegenwärtigen Debatte
erfolgte Einengung des Blicks auf die Personendossiers hat Methode. Ist sie
nicht gut geeignet, vom Vorstoß auf das Eigentliche abzulenken? Zu den
Inhalten, also auch zu Interessen und Absichten, zu Plänen und Handlungen? Auch
die Personendossiers erhielten dann eine über individuelle Betroffenheit,
Zugang und Bewertung hinausreichende Dimension. Denn das Täter-Opfer-Schema ist
dafür unzureichend.
Auch für die Kritik des gescheiterten
Sozialismus-Versuchs aus linker Sicht.
Wäre nicht wichtig, aufgrund von
primären Quellen die Gründe für die
Aufkündigung der Loyalität gegenüber der DDR und zum Übergang zu
systemimmanenter
oder systemfeindlicher Opposition, oder für die Ausreiseanträge genau
analysieren
zu können? Wäre nicht wichtig herauszufinden, welches die seinerzeitige
Analyse des MfS war, welches seine Fehleinschätzungen und deren Mechanismen?
Und anderes mehr.
Die aktuelle Debatte kreist
hauptsächlich um Dossiers, die DDR-Abwehrorgane über Bürger anlegten, welche
wegen tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen DDR-feindlichen Verhaltens
verdächtigt wurden. Sie werden pauschalisierend
als "Opfer-Akten" bezeichnet. Ich möchte diesen Begriff an dieser
Stelle nicht problematisieren, sondern als Arbeitsbegriff aus fünf Gründen akzeptieren:
Erstens trifft er subjektiv für sehr
viele Menschen zu.
Zweitens ist in heutiger Sicht
zweifelsfrei, wie viele - nicht selten tragische und für die DDR politisch
kontraproduktive - Fehleinschätzungen mit solchen Dossiers bewirkt wurden.
Drittens muß - nicht nur für die DDR
sondern überhaupt! - gefragt werden, ob sich die geheime Sammlung von Personeninformationen
über politisches und weltanschauliches Denken von Menschen wirklich eignet, ein
zutreffendes Bild über eine Persönlichkeit zu gewinnen. Denn: Geheime Informanten werden geschützt. Die geheim bleibende
Meinungsbildung über einen Menschen ist faktisch der Korrektur entzogen.
Subjektive Fehlurteile und auch Denunziation werden so sehr begünstigt.
Fehlurteile können leicht fortgeschrieben werden und sich kumulieren. Nur
bedingt kann dem Eigenkontrolle der Dienste entgegenwirken. Vor allem nicht,
wenn Vorurteile und "Erfolgszwänge"
bestehen. Das geheim
entstandene Bild wird zu einer kafkaesken und anonymen Macht. Gewiß, auch zutreffende
Persönlichkeitsbilder können entstehen, aber inzwischen sind die Fehlurteile
offenkundig - insbesondere durch Gleichsetzungen von legitimer (und oft
harmloser) Gesellschaftskritik mit feindlichen Absichten. Ist dies nicht eine allgemeingültige Warnung vor dieser
Methode der Beurteilung ohne öffentlichen Korrekturmechanismus? Meine nächsten
Gründe rühren an Prinzipielles.
Denn viertens: Solche Formen der
geheimen Ausforschung und Einschätzung des Denkens und des Vorfeldes von
gesellschaftlichem Handeln produzieren unvermeidlich eine tendenzielle
Gegenwirkung: Vorsicht, Opportunismus und Doppelzüngigkeit. Damit eine
Verminderung
gesellschaftlicher Kreativität.
Deshalb schließlich fünftens: Zwar
verneine ich nicht die Legitimität der Abwehrorgane der DDR, stimme aber
uneingeschränkt Hans-Jochen Vogel zu: "Der
Anspruch des Sozialismus ist nicht der von Jeder-Staat". Wären wir
Rosa Luxemburgs Konzept vom Wesen sozialistischer Macht gefolgt -
"breiteste Öffentlichkeit, unter tätigster ungehemmter Teilnahme der
Volksmassen, in unbeschränkter Demokratie" (Rosa Luxemburg, Gesammelte
Werke, Berlin 1974, Bd. 4, S. 362) - wäre das geheime Sammeln und Bewerten des
politischen und weltanschaulichen Denkens entbehrlich und Verschwendung
gewesen. Dieser Grund zeigt die
moralische Dimension: Das Handlungsmuster
des MfS war insoweit eben nicht viel anders, als das des Verfassungschutzes
bei seiner repressiven Beobachtung der Linken. Personendossiers wurden bei
völlig unzureichend ausgebildeten demokratischen Prozeduren für die gesellschaftliche
Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindung so zu einem Instrument des Politik-Ersatzes.
Von den eben besprochenen Dossiers sind
in einem gewissen Grade solche zu unterscheiden, die nicht dieser Funktion zu
dienen hatten, sondern der tatsächlichen Abwehr von Spionage, sowie von
Staatsschutzdelikten - soweit sie im positiven Recht eng definiert waren oder
eine enge Auslegung erfolgte und wenn
das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel strikt eingehalten wurde.
Die genannten Arten personenbezogener
Dossiers bilden nur einen Teil der Personendossiers des MfS überhaupt,
vielleicht den geringeren Teil. Hinzu kommen Erlaubnisvorgänge
(Seefahrtsbücher,
Sprengerlaubnisse, Giftscheine etc.) und die Ergebnisse der
Sicherheitsüberprüfung
von "Reisekadern" und "Geheimnisträgern". Die Erklärung
zum "Geheimnisträger" war in der DDR sachlich unbegründet äußerst
extensiv. (Das ist ein Moment des "kilometerlangen" Umfangs der
Akten. )
Mit dem betroffenen Umfang des
Personenkreies hat die DDR möglicherweise die Alt-BRD, welche die Briefträger
und Lokführer der "Regelanfrage" beim Verfassungsschutz unterwarf,
noch übertroffen. Wie auch immer: Die sozialstatistische Auswertung und
qualitative Analyse dieser Akten dürfte Auskünfte über die tatsächliche
Engagiertheit oder Staats-Loyalität der DDR-Bürger vermitteln. Ferner, wie sich
diese Engagiertheit und Loyalität im Kontext der Krisenentwicklung der DDR
gewandelt
haben, wie diese Wandlung ein Indikator der Krise wurde.
Schließlich gibt es die Akten über die
MfS-Mitarbeiter und ihr persönliches Umfeld, einschließlich des Wachregimentes
(mit hohem Durchgang von Wehrpflichtigen). Sehr interessant wären Aussagen
einer sozialkritischen und politischen Auswertung der Disziplinarakten der
MfS-Mitarbeiter.
Was soll mit den Akten geschehen?
Anders als Wolf Biermann (Spiegel Nr.49/93) begreife ich Schorlemmers Idee als
eine Metapher, nicht als wörtlich zu nehmenden Aufruf zu einem Freudenfeuer am
1. Januar 1996. Mit Wolf Biermann, der zu Schorlemmers Vorschlag den
Reichtstagsbrand assoziiert, wäre ich kategorisch dagegen, daß auch das vom MfS
angelegte Archiv über die Naziverbrechen in Hoppegarten zu Asche und Staub
wird. Wessen Freudenfeuer wäre das dann? So verstehe ich den Wittenberger
nicht. Er mahnt wohl an, mit den Akten anders umzugehen.
Es geht um alle Akten. Auch die Akten
der BRD-Dienste aus der Zeit des Kalten Krieges müssen geöffnet werden (soweit
man ihre Dubletten nicht im MfS-Archiv findet). Für die Historiker sind alle
Akten wichtig. Wichtig sind sie auch für die politische Linke, wenn diese sich
an Marx' Aufruf zur Selbstkritik (im "Achtzehnten Brumaire") hält und
nicht selbstmitleidig an der Klagemauer verschmilzt. Für die Gegenwart wäre
viel gewonnen, würden die Akten nicht verschlossen, aber nicht mehr für
kommerzielle, Sensationsinteressen und als Wahlkampfmunition dienstbar
sein.
Ohne Akten, muß man auch befürchten,
wäre die Phantasie der Boulevardpresse im Erfinden von politischen Keulen,
Verdächtiungen, Rufmord- und Gruselstorys noch ungehemmter.
Ohne Illusionen über den Rechtsstaat zu
haben, denke ich doch, daß gesicherte Akten auf die Dauer auch in gerichtlichen
Auseinandersetzungen ein Anhalt sind für die Wahrheitsfindung gegen die
hemmungslose Vermarktung von Phantasieprodukten.
Sehr geehrter Herr Dr. Geiger,
anbei erlaube ich mir, Ihnen eine Kopie
meines ND-Artikels vom 22.12.93 zur "Aktendiskussion" zu senden. Das
ND hat aus Platzgründen leider einige Passagen herausgenommen. Weil sie in
einem Zusammenhang mit unseren gestrigen Erörterungen im "Zwie
Gespräch"[6]
stehen, notiere ich sie hier:
Anknüpfend an die Frage, welche
Interessen wohl den Historiker Dr. Kohl bewegen, erinnere ich an "die bundesdeutsche Unlust, die Verantwortung
über das Document-Center in Westberlin zu übernehmen und dieses systematisch zu
erschließen, oder an die lächerlich kleine Personalausstattung der
Zentralstelle zur Untersuchung von Naziverbrechen in Ludwigsburg."
An den Gedanken über die
"komplizierte Durchdringung von Konfrontation und Kooperation" knüpfe
ich die Hoffnung, es "würden alle
Ziele und Dimensionen der beiderseitigen Politik des 'Wandels durch Annäherung'
im Gedächtnis bleiben, einige vielleicht erst bekannt werden. Das behinderte
sehr die neuerlichen Legendenbildungen."
Und weil Herr Gauck in seinen
Fernsehauftritten mit dem Thema
"Loyalitätseinschätzung der Bürger der DDR" mit sorgfältigem
Geschick verfälschend umgeht oder zumindest Wahrnehmungsprobleme aufweist, ist
mir die Frage wichtig, "wie sich
Engagiertheit und Loyalität (der DDR-Bürger) im Kontext der Krisenentwicklung der DDR gewandelt haben, wie diese
Wandlung ein Indikator der Krise wurde".
Sowie dann noch: "Schließlich gibt
es die Akten über die MfS-Mitarbeiter und ihr persönliches Umfeld,
einschließlich des Wachregimentes (mit hohem Durchgang von Wehrpflichtigen). Sehr interessant wären Aussagen einer sozialkritischen
und politischen Auswertung der Disziplinarakten der MfS-Mitarbeiter."
In der gestrigen Diskussion sprach ich
über den unerträglichen Provinzialismus im Umgang mit den Problemen. Dieser
zeigt sich natürlich deutlich in der Methodologie dieses Umgangs: z.B.
-
in der - leider nicht naiven - Fokussierung auf das Muster
einer Täter-Opfer-Beziehung,
-
in der Ausblendung
der konkreten Inhalte,
-
im pauschalen Wegfegen konkreter Fragen nach
positiv-rechtlichen Handlungsgrundlagen und deren - gewiß sehr problematischen
- praktischen Anwendung.
Ferner: Es wird als Bewertungskriterium
für DDR-Bürger rückwirkend eine einzige anständige Verhaltensnorm postuliert.
Sie geht von einer (natürlich nur für diesen einen Zweck gebilligten)
rechtsnihilistischen Position aus und verlangt die Mißachtung der öffentlichen
Ordnung und der Gesetze: "Alles ist
erlaubt, Hauptsache gegen die DDR". So wird es natürlich,
abgesehen von der je zweckdienlichen Berufung auf "überpositives
Recht", nicht juristisch ausformuliert, aber mit hoher Suggestivkraft zu
einem mächtigen verinnerlichten Bewertungsmuster gemacht.
Indem ich dieses kritisiere und auf die
damit verbundene Heuchelei hinweise, die sich am Umgang mit den historisch
einmaligen Verbrechen der Nazis offenbart, unterdrücke ich nicht eine
Kehrseite. Nämlich die DDR-spezifische Ausprägung eines voluntaristischen,
tagespragmatischen "Primats der Politik". Unter Meinesgleichen
führe ich dazu eine scharfe Klinge: Zwar war die DDR darin durchaus nicht originell,
aber unser sozialistischer Anspruch hätte uns diese Nachahmung schlechter
bürgerlicher Herrschaftspraktiken versagen müssen. Ich sehe darin ein
wesentliches Moment dafür, daß die DDR ihre über lange Jahre bestehende (auch
im Westen intern so eingeschätzte) innere Stabilität verlor.
Alles dies wird mit einer fast
beispiellosen Flachheit abgehandelt. Wir erlebten gestern übrigens ein erschreckend
eindrucksvolles Beispiel solcher Flachheit in "Expertisen" für Herrn
Eppelmanns Enquete-Kommission. Das aber ist eben auch ein Moment der realen
Verantwortung Ihrer Behörde, die eben nicht bloß juristisch zu definieren ist.
Zu meinem Bedauern haben Sie keine
wirkliche Antwort auf meinen surrealistischen Traum über "Herrn Gauck in
Ludwigsburg" gefunden (bei dem es nicht um Herrn Gauck als Person geht!).
Denn so einfach ist die Sache nicht
damit abzutun, daß - natürlich völlig richtig - die Gauck-Behörde keine
juristische, keine staatsanwaltschaftliche Einrichtung ist, wie die in Ludwigsburg.
Mit meiner Traum-Metapher hatte ich ein politisches
Problem aufgeworfen. Weil (auch) Herr Gauck als Moralist argumentiert, kann man
dieses politisch-ethische Problem nicht abtun.
Dieses ist längst nicht als ein
gestriges abgeschlossen. Allein schon deshalb nicht, weil - ich vereinfache nur
wenig - z.B. Herr Maunz als einer der wichtigsten und schulbildenden (!) Kommentatoren des Grundgesetzes (und damit der
"freiheitlich-demokratischen Ordnung") ein alter Nazi war, von dem
nun bekannt wurde, daß er sogar bis jüngst für Herrn Frey in München (Nazi und
Zweck-Freund Shirinowskis) tätig war. Oder: Als im Wolf-Prozess einmal die Rede auf Herrn Professor Schwinge
kam, wechselte Vorsitzender Wagner ganz schnell das Thema.
Nun wurde gestern auf die 68er
rekurriert: Deren Verdienste in Ehren (auch die HVA hat davon gezehrt). Jedoch
wie fragwürdig, wenn bedacht wird, ob die 68er denn für die Spitzen der
gegenwärtigen politischen Klasse so sehr prägend waren und heute von ihr
akzeptiert sind? (Sie kennen sicher die einschlägigen Äußerungen der Herren
Kohl oder Lambsdorff, nach Bayern woll'n wir gar nicht erst sehen.)
Deshalb ist Ihre Berufung auf die 68er
untauglich, obwohl - was ich sehr wohl zu würdigen weiß, deren "Marsch
durch die Institutionen" z.B. auch in den Ebenen von Staatsanwaltschaften
Spuren zeigt.
Abgeschlossen ist die Sache auch
deshalb nicht, weil neuerdings zu den faschistoiden ausländerfeindlichen
Exzessen nun politische Morddrohungen und nächtlicher Telefonterror gegen
Antifaschisten in Mode kommen. Unlängst sagte ein Kommentator zur Frage neuer
"Weimarer Verhältnisse", damals hätten die Nazis mit dem
Brandschatzen gewartet, bis sie die Macht besaßen - heute legten sie schon
zuvor Brände.... Heute darum überlegen
nicht wenige von den Nazis Verfolgte, auch jüdische Bürger, ob und wohin sie
emigrieren könnten. Das alles hat viel mit der Art des Umgangs mit der DDR,
darunter auch mit dem MfS, zu tun.
Und erledigt ist meine Erkundigung nach
der politischen Relation von "Ludwigsburg" (Metapher!) und
Gauck-Behörde auch deshalb nicht, weil mir Herr Gauck selbst weit hinter den
Herrn Bundespräsidenten zurückzugehen scheint: Dem genauen Leser aus der DDR -
namentlich, wenn er Klemperers LTI zu seinen geistigen Prägungen zählt -
wird das überdeutlich auf S. 93 seines Büchleins über die Stasi-Akten: Der
8.Mai 1945 ist Herrn Gauck eben nicht ein Tag der Befreiung von einer
wirklichen terroristischen Diktatur, einer deutschen über ganz Europa. Er ist
schlicht nur der "Jahrestag des Kriegsendes". Nur eine zufällige
Formulierung? Darf man nicht davon ausgehen, daß Herr Gauck die einschlägigen
Debatten um Weizsäckers Rede kennen dürfte? Und darf man angesichts
aufmerksamster Blicke aus ganz Europa so unsensibel sein, so leichtfertig zu
formulieren?
Eine letzte Bemerkung. Möglicherweise
ist mein gestern entstandener Eindruck irrig. Mir schien nämlich, Sie würden
gar nicht mehr an sich heran kommen lassen, welche Wirkungen die Auskünfte der Gauck-Behörde haben. (Es sei denn,
diese Wirkungen wären beabsichtigt.) Das ND von heute dokumentiert einige
Fälle. Das Schlimme ist, daß z.B. Menschen betroffen sind, bei denen es
gewissermaßen um Jahrzehnte zurückliegende "Jugendsünden" geht. Kein
Gedanke wird darauf verschwendet, daß Menschen sich ändern, daß sie lernen,
weiser werden und ihnen gestriges Tun vielleicht längst ein Gestriges geworden
war. Sie werden von Ihrer Behörde
stigmatisiert bis an's Ende ihrer Tage. Rechtfertigung wird ihnen versagt.
Mea culpa, maxima culpa wird verlangt. Das ist eben doch - Stefan Heym ist mit
dieser Metapher korrekt - Inquisition. Stefan Heyms Bild wird nicht deshalb
falsch, weil die heutigen Instrumente nicht naturalistisch mit den mittelalterlichen
identisch sind.
Ich hätte einen Vorschlag, der
schlagartig den Verdacht der Doppelmoral, der politischen Heuchelei und
Manipulation zerstören könnte:
Könnte die Gauck-Behörde - dem demokratischen
Anspruch der DDR-Bürgerbewegung folgend - nicht erklärten, sie könne ihre Grundsätze
in der neuen Bundesrepublik nur dann
als moralisch legitimiert ansehen, wenn sich deren Verfassungsorgane dazu
bekennen würden, daß sie die Nichteinhaltung eben dieser Grundsätze gegenüber
den Nazis in den Verfassungsorganen der alten Bundesrepublik als Fehler
zutiefst bedauern, sowie daß auch heute noch kein entsprechend Staatsnaher des Dritten Reiches
"herausgehobene Positionen in der Gesellschaft" bekleiden dürfe.[7] Daß
schließlich die Verjährungsregeln für die DDR-Staatsnahen in Kraft gesetzt
werden für die Staatsnahen des faschistischen Deutschen Reiches.
Mit freundlichen Grüßen
[1] Pfarrer in Chemnitz am 6. Dezember 1993 in NEUES DEUTSCHLAND
[2] Bärbel Bohley - Sprecherin eines Flügels der Bürgerrechtsbewegung, Heitmann - Justizminister in Sachsen
[3]
Pfarrer Friedrich Schorlemmer ist einer
der Begründer der Bürgerbewegung und der Bürgerrechtsgruppe „Demokratischer
Aufbruch“, erleitet in Wittenberg ein Studienseminar der Ev. Kirche
[4] Alles in allem die undifferenzierten Angaben der
Gauck-Behörde auf nur DDR-Bürger umgerechnet, sammelte sich in 40 Jahren pro
DDR-Bürger eine Akte von maximal 1 cm an: Diese Durchschnittsrechnung wäre
ebensowenig seriös, wie die
behördlichen Pauschalangaben
[5] Die eingerückten Teile des Manuskripts wurden im Endtext
des ND nicht gedruckt (Platzfrage)
[6] „Zwie Gespräch“ ist die Bezeichnung eines von Oberkirchenrat
Dr. Ulrich Schröter moderierten Gesprächskreises in Berlin-Lichtenberg, der
seit 1990 monatlich einmal Persönlichkeiten unterschiedlichster Herkunft,
Richtungen, „Betroffenheit“ und Interesses vereint, um Fragen der
DDR-Geschichte, die mit ihrer Sicherheitspolitik und mit dem MfS verknüpft
sind, zu erörtern. Unter gleichem Namen erschien eine Zeitschrift. Der Brief an
Dr. Geiger nimmt auf eine mit ihm in diesem Gesprächskreis mit ihm geführte
Diskussion über die Tätigkeit der Gauck.Behörde.
[7] Gauck; Stasi-Akten, S. 92. Infolge des biologischen Prozesses wären heute nur noch ganz wenige Präsidenten, Minister, Richter, Generale, Geheimdienstler, Spitzenbeamte oder Wirtschaftsführer betroffen, weshalb das Argument Adenauers entfiele, sie seien unentbehrlich.