„Neues Deutschland“,
08.12.20011
Fleißige Ermittler?
Dr.
Hans-Herbert Nehmer über die »Entdeckung« von Oradour
● Es sind
jetzt sechs mutmaßliche Mittäter am SS-Massaker vom 10. Juni 1944 im
französischen Oradour-sur-Glane verhört und deren
Wohnungen durchsucht worden. Man fand keine »wesentlichen Beweismittel«.
Wundert Sie das?
Das wundert
mich nicht. Ich wundere mich nur, dass die bundesdeutsche Justiz erst jetzt mit
den Ermittlungen im Fall des Mordes an 642 Bürgern von Oradour
beginnt, obwohl sie Namenslisten hatte.
● Von wem hatte sie diese Listen?
Von
Frankreich und der DDR. Ich kenne sämtliche Akten. Von den jetzt angeblich
»Entdeckten« waren vier zur Tatzeit nicht am Tatort, einer hatte die vor Oradour abgestellten Lkws zu bewachen, der sechste hat sich
geweigert, einen kranken Bürger von Oradour zu
erschießen.
● Warum jetzt der Ermittlungseifer? Wegen der
neonazistischen Mordserie, der Debatte um NPD-Verbot und vernichtete NS-Akten?
Könnte man
vermuten. Ich hoffe jedoch, dass die Justiz sich nicht nach politischen
Vorgaben richtet, sondern aus eigenem Antrieb sich der Ahndung von
NS-Verbrechen annimmt. Nicht nur zur Image-Pflege oder um die
deutsch-französische Freundschaft zu bekräftigen.
● Der DDR wurde und wird vorgeworfen, aus
purer Propaganda NS-Verbrecher gejagt zu haben.
Ja, und das
MfS hat NS-Verbrecher geschützt. Diese Mär ist so haltlos, wie das Versagen des
Bundesverfassungsschutzes bei der Vereitelung von neonazistischen Gewalttaten
offenkundig ist.
● Sie wurden von knapp einem Dutzend IMs »bewacht«.. .
Wie andere
leitende Kader .
● ... und nehmen das MfS trotzdem in Schutz?
Die
Nazi-Ermittlungen des MfS waren solide und akribisch.
● Sie waren Oberrichter im Prozess gegen
SS-Obersturmbannführer Heinz Barth.. .
...der als
Einziger von einem deutschen Gericht wegen des Massakers in Oradour
angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. In der richterlichen
Vernehmung hat Barth Angaben über weitere Beteiligte gemacht, die wir an das
Justizministerium der BRD sandten. Sie wurden nicht genutzt.
● Wie wurde Barth aufgespürt?
Das dauerte
Jahre. Wissen Sie, wie viele Barths es gibt? Er hat 1945 seine Papiere
gefälscht. Man spürte ihn 1981 in Gransee auf.
● Wie haben Sie ihn erlebt?
Geständig und
reuevoll, er berief sich allerdings auf Befehle.
● Warum hat die DDR ihn nicht nach
Frankreich ausgeliefert, wo er 1953 in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden
ist?
Es gab keinen
Auslieferungsantrag. Das war wohl der Systemkonfrontation geschuldet. Ein
Vertreter der Botschaft war Prozessbeobachter. In der SBZ/DDR wurden 1948 bis
1983 elf Bürger wegen in Frankreich begangener Verbrechen angeklagt und zehn verurteilt.
● Wieso kam Barth 1997 frei?
Das sollten
Sie das Justizministerium fragen. Seine Beinprothese hinderte uns jedenfalls
nicht, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Er starb 2007.
Fragen:
Karlen Vesper