junge Welt vom 19.02.2004
Feuilleton
Die Kundschafterin
Am Mittwoch starb Johanna Olbrich in Bernau bei Berlin
Robert Allertz
Sonja Lüneburg kannte jeder. Wer aber war Johanna Olbrich? Das ist mitunter bei Kundschaftern so: Der Deckname gewinnt eine größere Prominenz als der eigentliche. Das ist ganz gut so. Denn als die Rentnerin Johanna Olbrich in eine Plattenbauwohnung unweit des Rathauses in Bernau einzog, das war Ende der 80er Jahre, war sie eben nur die nette alleinstehende Dame von nebenan. Erst als man sie 1991 abholte und in U-Haft steckte, und die Zeitungen triumphierend tröteten: »Sonja Lüneburg endlich aufgespürt«, erfuhren die Nachbarn, mit wem sie da seit einigen Jahren Tür an Tür wohnten.
Johanna Olbrich war Mitte der 60er Jahre von der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit (HVA) der DDR in den Westen geschickt worden. Nach einigen Jahren bewarb sie sich auftragsgemäß in Bonn und wurde Sekretärin bei William Borm, der für die FDP im Bundestag saß. Daß sich dieser regelmäßig mit Markus Wolf traf, wußten offenkundig die Führungsoffiziere von Sonja Lüneburg ebensowenig, wie Borm Kenntnis von der Haupttätigkeit seiner Sekretärin hatte. Borm schied aus dem Bundestag aus - sie wechselte in die FDP-Zentrale. Sie war dort Vorzimmerdame bei den Generalsekretären Karl-Hermann Flach (bis 1973) und Martin Bangemann (1974/75). Als letzterer ins EU-Parlament nach Brüssel ging, nahm er sie mit. Sie blieb auch seine wichtigste Vorzimmerkraft, als er 1984 Bundesminister für Wirtschaft wurde. Nunmehr hatte die HVA (noch) eine Quelle in Kohls Kabinett.
Das Verhältnis zwischen Sonja Lüneburg und Martin Bangemann war bestens. Sie begleitete ihn und seine Familie selbst bei Segeltörns in griechischen Gewässern, man duzte sich. Als sie 1992 wegen Spionage vor Gericht stand und der EU-Kommissar Bangemann als Zeuge geladen war, begrüßte dieser sie freundschaftlich mit Handschlag. Nicht ohne Schmunzeln zeigte sie mir das Anschreiben vom Dezember
1999. das einem Buch ehemaliger Mitarbeiter zu Bangemanns 65. Geburtstag beigelegt war: »Liebe Sonja, ... Dein Teil an der Geschichte ist nur kurz erwähnt. Frohes Fest, Gesundheit und Glück auch in 2000. Liebe Grüße«.
Eine Unachtsamkeit beendete nach fast zwei Jahrzehnten im August 1985 ihren Einsatz in Bonn. Bei der Rückkehr auf der »Südroute« ließ sie im Taxi in Rom ihre Handtasche liegen. Das Geld war ersetzbar. Aber nicht die falschen Papiere. Aus Sicherheitsgründen zog die HVA die 59jährige Sonja Lüneburg aus Bonn zurück: Man konnte nicht darauf setzen, daß der Taxifahrer die Handtasche nicht im Fundbüro abgeben würde.
Sonja Lüneburg wurde wieder Johanna Olbrich. Bis die DDR verschwand und sie ein Überläufer ans Messer lieferte. Zwei Jahre und sechs Monate Haft bekam sie, die aber in der Revisionsverhandlung 1994 zur Bewährung ausgesetzt wurden.
Als umtriebige Rentnerin und engagierte Zeitgenossin arbeitete sie in der Bernauer PDS und versorgte die Katzen von Markus Wolf in Prenden, wenn dieser auf Lesereise war. Sie selbst trat im Sammelband »Kundschafter im Westen« (edition ost, Berlin 2003) erstmals mit Teilen ihrer Erinnerungen an die Öffentlichkeit. Seither schrieb sie an ihren Memoiren. Das war spannende Erinnerungsarbeit, zumal sich abzeichnete, daß die FDP, in deren Zentrale sie anderthalb Jahrzehnte lang erhellende Einblick gewann, sich bei der Veröffentlichung würde warm anziehen müssen. Sie wußte viel bislang Unbekanntes, was nicht nur etwas über den Zustand der Partei damals, sondern auch über ihren heutigen aussagte. Das meiste war geschrieben.
Völlig überraschend ist Johanna Olbrich am Mittwoch morgen in Bernau verstorben. Sie brach in ihrer Wohnung zusammen. Die Versuche, sie im Krankenhaus zu reanimieren, blieben ohne Erfolg.
Viele werden sie sehr vermissen. Denn einsam war sie nicht.