„junge Welt“ vom 31.05.2018
Es focht ihn nicht an
Mit Gotthold Schramm starb einer der wichtigsten
Aufklärer über die bundesdeutsche Desinformationspolitik zur Hauptverwaltung
Aufklärung
Robert Allertz
Über die beiden Teile des Ministeriums für
Staatssicherheit, die Aufklärung und die Abwehr, wurde in den vergangenen
dreißig Jahren viel gedruckt und gesendet. Das meiste mit einer bestimmten
politischen Absicht, nämlich zu diffamieren und zu kriminalisieren, wofür die
offizielle Bundesrepublik sehr viel Geld ausgegeben hat.
Diesen dauerhaften Bemühungen einer gut gefütterten
Erinnerungsindustrie stemmten sich nicht wenige entgegen, vornehmlich die
Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung e. V. (GRH),
die am Dienstag den 25. Jahrestag ihrer Gründung feierlich beging.
Hierbei wurde auch mitgeteilt, dass Gotthold Schramm,
einer ihrer Gründer, im März 86 Jahre alt geworden – am 18. Mai verstorben ist.
Mit seinem Elektroroller war er in seinem Heimatort Friedersdorf zum Einkauf in
den Supermarkt gefahren, dort, zwischen den Regalen, ereilte ihn der
Herzinfarkt. Wenn es nicht so traurig wäre: was für eine Metapher.
In der Arbeitsgruppe Aufklärer der GRH war Gotthold
Schramm einer der aktivsten Mitstreiter. Er organisierte die meisten Bücher
über die HVA und beteiligte sich an Sammelbänden, Tagungen und Treffen
ehemaliger Kundschafter, er präsentierte die Bücher und bot Brüllern die Stirn.
Oft gab es Zoff in der jW-Ladengalerie,
wenn Vera Lengsfeld mit Gefolge aufmarschierte. Das focht ihn nicht an, er
entwickelte eine Gegenöffentlichkeit, indem er ein nüchternes Bild der
Hauptverwaltung Aufklärung zeichnete.
Schramm, Jahrgang 1932, schloss sich mit 19 Jahren dem
MfS an und war seit 1954 in der Aufklärung tätig. In den 1960er Jahren
arbeitete er bei der Spionageabwehr, dann kehrte er wieder zur HVA zurück. Dort
war er mehr als anderthalb Jahrzehnte für die Sicherheit der DDR-Botschaften
zuständig. Seit 1986 leitete er die Abteilung XVIII, die sich besonders für
Belange in der Bundesrepublik interessierte. Als die DDR-Aufklärung im Frühjahr
1990 endgültig liquidiert wurde, schied er als Oberst aus dem Dienst: mit
unerhörtem Wissen und beeindruckenden Kontakten. Was ihm jedoch zunächst wenig
nützte: Sein notgedrungener Einstieg in die Wirtschaft blieb ein wenig
erfolgloser Ausflug. Als Ruheständler aber lief er zu großer Form als
politischer Propagandist auf.
Gelegentlich begleitete ich ihn zu Vorträgen und
Diskussionsveranstaltungen, in besonderer Erinnerung ist mir eine in den
Nullerjahren, im überfüllten Audimax der Bonner Universität geblieben. In der
ersten Reihe saß eine Frau vom Staatsschutz, was ich wusste, weil sie sich vor
einiger Zeit bei einer anderen Veranstaltung in Düsseldorf bei mir vorgestellt
hatte. Nach der anregenden Diskussion sagte ich zu Gotthold, dass auch der
Staatsschutz da gewesen sei. Ob ich diese Frau meinte, die vor uns in der
ersten Reihe gesessen habe? Ja, die nämliche. Ach, sagte er und grinste: Die
ist mein größter Fan. Sie kommt immer, wenn ich in NRW unterwegs bin.
Das meinte er ironisch, denn Zuneigung trieb sie ganz
gewiss nicht auf die Spur des ehemaligen MfS-Offiziers. Aber die Frage, die in
seiner Bemerkung mitschwang, war nicht zu überhören: Wovor haben die Angst? Warum
observieren sie uns noch immer?
Nein, sie fürchten nicht die Wiederauferstehung der
HVA. Sie fürchten sich vor der Wahrheit.