„UZ“,24.01.2020
Arnold Schölzel:
Spiegel der
Klassenkämpfe
Vor
70 Jahren entstand das Ministerium für Staatssicherheit der DDR
Für Dienstag, den
4. März 2003, hatte das Berliner Landgericht einen Termin in einem
Verfahren gegen drei ehemalige Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit
der DDR (MfS) festgesetzt. Es ging um einen Todesfall an der DDR-Staatsgrenze
im Jahr 1976. Dabei war ein DDR-Bekämpfer und
Fluchthelfer, der von der Bundesrepublik aus bewaffnet auf DDR-Territorium
eindrang, bei einem Schusswechsel ums Leben gekommen. Der Vorwurf gegen die
MfS-Offiziere lautete zunächst: Mord. In letzter Instanz erkannte der
Bundesgerichtshof später auf Notwehr. Auf der Anklagebank blieb 2003 ein Platz
leer. Der gesondert angeklagte General Karl Kleinjung, bis zu seiner
Pensionierung 1981 Leiter der für Militärabwehr zuständigen Hauptabteilung I
des MfS, war am 20. Februar 2003 gestorben. Der Richter glaubte dieser
Information nicht so recht, der Staatsanwalt tat so, als sei der Verfolgte noch
am Leben. Er konnte sich auf eine Nachrichtenagentur berufen, die das am Vortag
behauptet hatte. Bundesdeutscher Rechtsstaats- und Medienalltag.
Etwa 100.000
Ermittlungsverfahren waren zu diesem Zeitpunkt seit 1990 gegen DDR-Bürger
eingeleitet worden, darunter gegen viele MfS-Offiziere. Arbeits- und Sozialgerichte
fällten Terrorurteile: Wer in einer MfS-Kantine Kartoffeln geschält hatte,
konnte woanders als „unzumutbar“ fristlos gekündigt werden und bekam „zu Recht“
die Rente unter das Existenzminimum gekürzt. Richter und Staatsanwälte,
Journalisten ohnehin, halluzinierten von Folter, Misshandlungen und
„flächendeckender Überwachung“ durch das MfS, sogenannte Forscher entdeckten
ehemalige NSDAP-Mitglieder im MfS, die es nie gegeben hatte. Fast alles andere
war ebenso frei erfunden. In ganzen Landstrichen der DDR hatte es keine
Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) gegeben, zum größten Teil waren sie in den 80er
Jahren in Großbetrieben eingesetzt, deren Betriebssicherheit wegen
ausbleibender Reparaturen gefährdet war. Die Strafgerichtsprozesse erbrachten
bis auf einen Fall nichts. Rechtsanwalt Peter-Michael Diestel (CDU), letzter
Innenminister der DDR, der zahlreiche MfS-Mitarbeiter vor Gericht verteidigt
hatte, resümierte 2001 in „junge Welt“: „Das MfS ist juristisch rehabilitiert.“
Er sei kein Freund von Geheimdiensten, aber dies sei der „effektivste“ der Welt
gewesen.
Allein das dürfte
1990 ein besonderes Rachemotiv gewesen sein, nicht nur die traditionelle
Verfolgung von Sozialisten und Kommunisten in allen großdeutschen Staaten, vom
Sozialistengesetz 1878 angefangen.
Mit Karl Kleinjung hatten die bundesdeutschen Geheimdienste, die deutsche
Bourgeoisie und der westdeutsche Staat insgesamt eine besonders hohe Rechnung
im Klassenkampf offen. Das galt im Grunde für alle aus der Generation, die vor
70 Jahren die führenden Positionen im MfS einnahmen: Sie waren durchweg –
zumeist bewaffnete – Kämpfer gegen die viehisch wütende Konterrevolution
nach 1918, gegen den aufkommenden Faschismus in der Weimarer Republik und gegen
die faschistische Diktatur gewesen. Sie gehörten zu den wenigen Überlebenden,
die denen entkommen waren, die in den Westzonen sofort nach 1945 darangingen,
nun zusammen mit den Westalliierten die am 8. Mai 1945 von der Roten Armee
besiegelte Niederlage ungeschehen zu machen. Ihr Kampf wurde ihnen westlich der
Elbe nie verziehen und die Abrechnung ab 1990 auf alle ihre Nachfolger
ausgedehnt, bis heute – ausgenommen jene, die 1989/1990 ihr Wissen über
MfS-Mitarbeiter bei BND, Verfassungsschutz und anderen versilberten und viele
Kundschafter ins Gefängnis brachten.
Am
24. Januar vor 70 Jahren entschied das Politbüro der SED, das MfS zu
bilden. Der DDR-Ministerrat folgte dem und am 8. Februar 1950 nahm die
Volkskammer das entsprechende Gesetz an. Am 16. Februar wurde Wilhelm Zaisser (1893 bis 1958), 1920 Kämpfer der Roten Ruhrarmee,
Militärexperte der Kommunistischen Internationale, Spanienkämpfer und
Antifa-Lehrer für deutsche Kriegsgefangene in der UdSSR, zum ersten Chef des
MfS ernannt. Die Biographie seines Stellvertreters und Staatssekretärs, Erich
Mielke (1907 bis 2000), der das MfS von 1957 bis 1989 leitete, liest sich
ähnlich: Mitglied des KJVD, der KPD, des RFB und des bewaffneten Selbstschutzes
der Partei. Er nahm an einer bewaffneten Vergeltungsaktion gegen die Berliner
Polizei, die am 8. August 1931 aus nächster Nähe auf dem heutigen
Rosa-Luxemburg-Platz einen 18-jährigen Arbeiter hinterrücks erschossen hatte,
teil und wurde 1993 deswegen zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Etwas
anderes hatte die Justiz nicht gefunden. Mielke wurde militärisch in der
Sowjetunion ausgebildet, war Spanienkämpfer, Mitglied der illegalen KPD-Leitung
in Frankreich und seit 1949 Leiter der Hauptverwaltung zum Schutz der
Volkswirtschaft.
Karl
Kleinjungs Lebenslauf spiegelt ebenso die
Klassenkämpfe im Deutschland des 20. bis ins beginnende 21. Jahrhundert wider,
aber – wie einmal die Moskauer „Iswestija“ schrieb – sein Leben hätte
für das „zehn anderer gereicht“. Daher sei es hier skizziert: Geboren am
11. März 1912 in einer Remscheider Arbeiterfamilie und aufgewachsen in
einem Viertel, das wegen seiner mehrheitlich KPD wählenden Bewohner
„Klein-Moskau“ genannt wurde, findet er nach der Schule keine Lehrstelle, nur
Gelegenheitsarbeiten. Schließlich gibt es einen Ausbildungsplatz bei einem
Friseur, nach dem Lehrabschluss sofort die Papiere. Er selbst sagt später: „Der
Kapitalismus zog sich seine schärfsten Widersacher selbst heran.“ Nicht zuletzt
durch die Bekanntschaft mit dem ebenfalls aus Remscheid stammenden
KJVD-Funktionär Artur Becker wird er mit 17 Mitglied im Jugendverband, 1930
folgt der Eintritt in den RFB, 1931 der in die Partei. Mit seiner RFB-Gruppe
hat er wiederholt dafür Sorge getragen, dass die SA in seinem Viertel nichts zu
melden hatte. Noch am 5. März 1933, dem Tag der Reichstagswahlen, als sich
die Nazis erneut in die „rote Zone“ wagten, wird scharf zurückgeschossen,
danach muss er seine Heimat Richtung Holland verlassen. Hier arbeitet er als
Kurier des Parteiapparats und organisiert einen illegalen KJVD-Kongress, was
ihm gemeinsam mit dem KJVD-Genossen Albert Hößler
(1910 bis 1942) Internierung und Abschiebung nach Belgien einbringt. 1936 eilt
er nach Spanien, um den Faschismus zu schlagen.
Der 24-Jährige
sammelt seine ersten Fronterfahrungen als Stabsmelder, im Stellungskrieg wie im
Nahkampf vor Madrid. Anfang 1937 meldet er sich freiwillig zur
Partisanenausbildung, absolviert zudem einen kurzen Panzerlehrgang. Dabei
trifft er auf sowjetische Militärberater und -spezialisten, die auch künftig
eine große Rolle in seinem Leben spielen werden. Mit ihnen zusammen gehört der
nunmehrige Leutnant Kleinjung 1939 zu den letzten Internationalisten, die
Spanien Richtung Sowjetunion verlassen.
Dort
arbeitet er als Schlosser im Autowerk von Gorki – auch in der Nacht zum
22. Juni 1941. Am Morgen meldet er sich freiwillig zur Roten Armee. Doch
die Kampfgefährten aus Spanien haben anderes mit ihm vor: Einsätze im
Hinterland der Okkupanten. Für ihn heißt das zunächst Besuch einer
Partisanenschule bei Moskau. Er soll als Kurier bzw. Funker in Berlin die
unterbrochene Verbindung zur Widerstandsgruppe um Harro Schulze-Boysen (1909
bis 1942) und Arvid Harnack (1901 bis 1942) wiederherstellen. Doch an seiner
Stelle wird Albert Hößler, ebenfalls Spanienkämpfer,
geschickt. Der kenne sich in Berlin besser aus. Als die Gestapo im Herbst 1942
der Kundschaftergruppe auf die Spur kommt und blutige
Rache an den Männern und Frauen nimmt, die der legendären Roten Kapelle
zugerechnet werden, gehört Hößler zu den am
22. Dezember 1942 in Berlin-Plötzensee Ermordeten.
Auf Kleinjung
wartet ein anderer Einsatz. Er wird zusammen mit einem jungen sowjetischen
Offizier bei belorussischen Partisanen abgesetzt, die nicht weit entfernt vom
besetzten Minsk operieren. Sein Auftrag: Den faschistischen Generalkommissar
von „Weißruthenien“, so hatten die Nazis Belorussland
benannt, SS-Gruppenführer Wilhelm Kube (1887 bis 1943), als obersten
Befehlshaber zu liquidieren. Kleinjung und sein Genosse Nikolai Chochlow (1922 bis 2007) sind mit Uniformen der deutschen
Geheimen Feldpolizei und entsprechenden Papieren ausgestattet und sondieren die
Möglichkeiten für ein Attentat. Minsk ist weitgehend zerstört, aber es gibt
eine Widerstandsorganisation. Sie stoßen auf Jelena Masanik,
die als Dienstmädchen in der Residenz des Generalkommissars angestellt ist,
zunächst den beiden misstraut, schließlich aber den Naziverbrecher am
22. September 1943 mit zwei Magnetminen in die Luft sprengt.
Auf Kleinjung
wartet ein anderer Einsatz. Er wird zusammen mit einem jungen sowjetischen
Offizier bei belorussischen Partisanen abgesetzt, die nicht weit entfernt vom
besetzten Minsk operieren. Sein Auftrag: Den faschistischen Generalkommissar
von „Weißruthenien“, so hatten die Nazis Belorussland
benannt, SS-Gruppenführer Wilhelm Kube (1887 bis 1943), als obersten
Befehlshaber zu liquidieren. Kleinjung und sein Genosse Nikolai Chochlow (1922 bis 2007) sind mit Uniformen der deutschen
Geheimen Feldpolizei und entsprechenden Papieren ausgestattet und sondieren die
Möglichkeiten für ein Attentat. Minsk ist weitgehend zerstört, aber es gibt
eine Widerstandsorganisation. Sie stoßen auf Jelena Masanik,
die als Dienstmädchen in der Residenz des Generalkommissars angestellt ist,
zunächst den beiden misstraut, schließlich aber den Naziverbrecher am
22. September 1943 mit zwei Magnetminen in die Luft sprengt.
Für Kleinjung
geht es weiter. Ab Sommer 1944 startet die sowjetische Abwehr in Belorussland
unter dem Codenamen „Beresina“ eines der größten und erfolgreichsten
Funktäuschungsmanöver des Zweiten Weltkrieges. Acht Monate lang, buchstäblich
bis zum letzten Tag des Krieges, hält sie die Führung der Wehrmacht zum Narren,
kassiert nicht nur immer wieder eingeflogene Gruppen, die angeblich 2 000
eingeschlossene Soldaten versorgen und herausholen sollen, sondern sendet auch
manche Fehlinformation von strategischer Bedeutung. Als Muttersprachler spielt
Kleinjung beim „Empfang“ der mit Waffen, Munition, Geld und Lebensmitteln
abgesetzten deutschen Kommandos eine wichtige Rolle. Der SS-Offizier Otto Skorzeny (1908 bis 1975), der seine Befreiungsaktion für
den italienischen Duce Benito Mussolini (1883 bis 1945) in Belorussland
wiederholen sollte, glaubte bis an sein Lebensende in Madrid nicht, dass das
deutsche Oberkommando und er damals getäuscht wurden.
1946 kehrt die
Familie Kleinjung – inzwischen hat Karl die aus Riga stammende Partisanin
Julia Losinsch geheiratet – nach Deutschland
zurück. Für die in der sowjetischen Zone noch im Aufbau begriffene Volkspolizei
(VP) kommt einer wie Kleinjung gerade recht: Er wird Kreispolizeidirektor in
Nordhausen, später stellvertretender VP-Chef in Thüringen und Leiter der
VP-Landesbehörde in Mecklenburg. Dann folgt sein, wie er dem Autor dieser
Zeilen Ende der 90er Jahre schilderte, „härtester Auftrag“: Er soll nach
Gründung der DDR die Insassen des Speziallagers Nr. 2, das die Rote Armee 1945
auf dem Gelände des ehemaligen KZ Buchenwald eingerichtet hatte, entlassen. Er
weigert sich mehrfach und erhält schließlich einen Befehl. Dem beugt er sich
zähneknirschend. Die meisten der Internierten sind Kriegsverbrecher, die später
von DDR-Gerichten verurteilt werden.
Als das MfS
geschaffen wird, ist Kleinjung Oberst und wird Leiter von dessen Berliner
Bezirksverwaltung. Von 1956 an leitet er 25 Jahre lang, seit 1959 als General,
den Bereich Militärabwehr, dem der Geheimnisschutz in der NVA und den
Grenztruppen obliegt.
1962 klingelt in
seinem Dienstsitz in der Berliner Schnellerstraße das Telefon. Er kenne doch,
fragt jemand, den der wortkarge Kleinjung auch später nicht nennt, aus seiner
Zeit in der Sowjetunion den Genossen Rudolf Abel (1903 bis 1971) ganz gut. Das
ist untertrieben. Abel war einer seiner Ausbilder und einer der Leiter der
Operation „Beresina“. Er sitzt aber seit fünf Jahren als „russischer Atomspion“
in den USA in Haft. Nun soll er gegen den US-Piloten Francis Powers (1929 bis
1977) ausgetauscht werden. Der war im Mai 1960 mit seinem Spionageflugzeug vom
Typ U 2 vom sowjetischen Himmel geholt und zu 15 Jahren Haft verurteilt worden.
Nun wird jemand benötigt, der Rudolf Abel zuverlässig identifizieren kann. Das
geschieht am 10. Februar 1962 auf der Glienicker Brücke zwischen Potsdam
und Westberlin. 20 Minuten nach acht treffen in der Brückenmitte die beiden
jeweils dreiköpfigen „Vorausabteilungen“ aufeinander, darunter Kleinjung.
Beiden Gruppen folgten wenige Minuten später die Hauptpersonen – Abel und
Powers. Winken auf beiden Seiten signalisiert die jeweilige Identifizierung.
Kleinjung und Abel umarmen sich, viel Zeit bleibt ihnen an diesem Tag nicht,
aber sie treffen sich bis zu Abels Tod 1971 wiederholt. Ob Steven Spielberg Kleinjungs Namen kannte oder gar eine Ahnung von dessen
Lebenslauf hatte, als er 2015 seinen Film „The Bridge of
Spies“ über dieses Treffen herausbrachte, ist unbekannt. Aber wozu sollte er
eine Ahnung davon haben?
Bis zu seinem Tod
werden in der „kolonialisierten DDR“, wie Kleinjung sagt, mehr als zwölf
Verfahren gegen ihn eingeleitet. Die Ehrenrente als antifaschistischer
Widerstandskämpfer wird ihm aberkannt. Seine Biographie besagt: Das MfS wie die
DDR insgesamt entstanden im Widerstand und in Verteidigung des Staates, der
tatsächlich eine Gegenmacht auf deutschem Boden war, gegen die Bundesrepublik.
Die wurde gegründet, um die Niederlage von 1945 rückgängig zu machen. Ein MfS,
seine Mitarbeiter gelten da zu recht
als Feinde.